Leseprobe "Schwalbenjagd"

Präzise hatte Overbeck die Adresse von Belinda nicht beschrieben. Sie mussten mehrere Hauseingänge abklappern, bis sie schließlich den richtigen fanden. 'Wagner 1x klingeln, Kowalski 2x klingeln' stand auf dem Namensschild. Grüninger klingelte ein Mal.

Aus dem Hausflur waren Schritte zu hören, dann wurde die Tür geöffnet. Eine Frau mittleren Alters in fleckiger Kittelschürze und mit einem um den Kopf gebundenen Tuch starrte entgeistert auf die beiden Uniformierten. "Ja, bitte?", fragte sie unwirsch und schaute zum Nachbarhaus, wo sich just die Gardinen der Wohnung im Hochparterre bewegten. "Sie wollen sicher zu Fräulein Kowalski!"

"Ähm, nein, nicht direkt. Sind Sie die Hausherrin?"

Das Gesicht der Frau verzog sich. "Jaaa?", kam es gedehnt. "Mein Name ist Elvira Wagner. Mir gehört das Haus seit dem Tod meines Mannes." Es schien ihr unerklärlich, weshalb die Polizei sich für sie interessierte.

"Frau Wagner, dürften wir wohl kurz reinkommen?"

Sie trat zurück, um Grüninger und Hotte einzulassen, nicht ohne ein weiteres Mal zum Nachbarhaus zu spähen. Im Treppenhaus nannte Grüninger den Grund ihres Besuchs und löste einen entrüsteten Wortschwall aus. "So was musste ja passieren! Ich hatte gleich ein ungutes Gefühl, kaum dass die eingezogen war!", schimpfte sie. "Keine Nacht vor zwei Uhr ist die Schlampe heimgekommen, die hat sich bestimmt mit Amis rumgetrieben. Dabei hat sie mir gesagt, sie hätte eine Arbeit in einem Café. Alles gelogen, so eine schamlose Person!"

Sie kramte einen Schlüsselbund aus ihrer Schürze und bat die Beamten, ihr zu folgen. Doch die Tür zu Erna Kowalskis Zimmer war nicht abgeschlossen. Grüninger und Hotte betraten die kleine Wohnstube und bedeuteten der Vermieterin, draußen zu warten. Dennoch hatte sie einen schnellen Blick an den Beamten vorbei geworfen und einen spitzen Schrei ausgestoßen, als sie das Blut entdeckte. "Nein! Der Teppich, das krieg' ich doch nie wieder raus!"

Hotte schloss die Tür vor ihrer Nase, während Grüninger den dunklen Fleck musterte, der von den Rändern her braun eingetrocknet war. Abgesehen davon wirkte der Raum sauber und aufgeräumt. Er war spartanisch, wenn auch mit allem Notwendigen eingerichtet: Zwei Cocktailsesselchen mit Tisch, ein Schrank und eine kleine Anrichte mit einer elektrischen Kochplatte. Auf dem Tisch standen zwei benutzte Sektkelche. Neben einem Aschenbecher mit drei Kippen lag eine angebrochene Schachtel Ernte 23. Nichts ließ auf einen Streit oder Kampf schließen, vielmehr hatten zwei Menschen scheinbar einträchtig beisammengesessen. Aber irgendwann hatte das Opfer seinem Mörder arglos den Rücken zugewandt.

Hotte öffnete die Tür zum Nachbarzimmer, eine karg möblierte Kammer mit einem schmalen Bett. Das Bettzeug war auf den Boden geworfen, das Laken fehlte! Sie hatten den Tatort gefunden, alles Weitere war Sache der Spurensicherung. Als sie das Treppenhaus betraten, empfing Elvira Wagner sie mit Leidensmiene. "Leute holt man sich ins Haus!"

"Hatte Fräulein Kowalski hin und wieder Herrenbesuch?", fragte Grüninger, ohne auf das Lamento einzugehen.

"Das wär' ja noch schöner! Der hätt' ich was erzählt!"

Grüninger glaubte ihr aufs Wort. Trotzdem hatte sich Erna Kowalski mindestens einmal über die Hausregeln hinweggesetzt.