Leseprobe "Rotes Licht"
Grüninger und von Hohenfels legten die wenigen Meter zur Polizeiwache zu Fuß zurück. Schweigend marschierten sie nebeneinander her, jeder in tiefes Grübeln versunken. Innerhalb von nur zwei Tagen hatten sie zwei Leichen. In beiden Fällen waren die Opfer erschreckend jung – damit erschöpften sich die Gemeinsamkeiten aber schon. Hier ein junger Mann aus bescheidenen, aber ordentlichen Verhältnissen, dort ein Mädchen – allem Anschein nach – aus dem Milieu. Die Tatwaffe hier ein Messer, dort ein Tuch. Während der junge Mann von vorne angegriffen worden war, hatte man das Mädchen hinterrücks überfallen. Und auch die Fundsituation unterschied sich. Der Marktbrunnen war ein prominenter Ort, an dem eine Leiche rasch entdeckt würde – im Gegensatz zu einem Gebüsch im Garten eines verwilderten und sich selbst überlassenen Anwesens. Eine Verbindung zwischen beiden Morden schien mehr als unwahrscheinlich, trotzdem mussten sie diese Möglichkeit in Betracht ziehen.
Bullige Wärme schlug ihnen entgegen, als sie die Tür zur Wache aufstießen. Die alte Koksheizung, ein Relikt aus den dreißiger Jahren, funktionierte noch immer einwandfrei! Von Hohenfels' Blick saugte sich fest an Grüningers Schreibtisch. Dort gammelte ein eilig unterbrochenes Frühstück auf einem flüchtig glatt gestrichenen Bogen Pergamentpapier wenig appetitlich vor sich hin. Zwar erfüllte das gefällige Aroma von geräucherter Leberwurst den Raum, nichtsdestotrotz wölbte sich die obere Scheibe des angebissenen Brotes in der trocknen Hitze unschön nach oben. Aus dem Augenwinkel bemerkte Grüninger die angewiderte Reaktion des Gießener Kollegen. Geschwind schlug er das Papier zusammen und ließ die Mahlzeit in der Schublade seines Schreibtisches verschwinden. Mit dem Handrücken fegte von Hohenfels derweil einige imaginäre Krümel von der Stuhlfläche und setzte sich. "Also, was haben wir: Eine Tote, erdrosselt, davon können wir wohl auch ohne den ausführlichen Bericht der Gerichtsmedizin ausgehen. Der Fundort liegt in einer wenig frequentierten Gasse mit leer stehenden Häusern, das Ganze nicht allzu weit weg vom Friedhof. Eine Anwohnerbefragung kommt dann eher nicht in Frage." Über seinen eigenen Witz grinsend, fuhr er fort. "Aber der Eingang der Kaserne liegt um die Ecke, die Torwache könnte etwas bemerkt haben. Hier sollten wir ansetzen, das übernehmen Sie, Kollege Grüninger."
Na bitte!, schoss es dem Kollegen Grüninger durch den Kopf. Als ob wir nicht von selbst darauf kämen! Natürlich würden sie als erstes in Erfahrung bringen, wer in der vergangenen Nacht Wache gehalten hatte.
Oben in der Griedeler Straße war eine Fleischerei. Auf den Sonntagsbraten verzichten wollte niemand, aber das Vieh auf dem Gang zur Schlachtbank mochte auch keiner sehen. Deshalb verrichteten die Metzger ihr blutiges Handwerk dann, wenn alle schliefen. Vielleicht fand er unter ihnen einen Zeugen? Und dann waren da natürlich noch die Kneipen, obwohl die Suche nach einem Nachtschwärmer, der zum Reden bereit war, wie immer reine Zeitverschwendung sein würde!
"Liegen aus der letzten Nacht irgendwelche Meldungen vor, vielleicht gibt es einen Zusammenhang mit unserem Fall?"
Was für ein blasierter Einfaltspinsel! Als gäbe es in der Garnison auch nur eine einzige Nacht ohne irgendwelche Meldungen. Der Mann hatte überhaupt keine Ahnung, was hier abging. Grüninger blies die Backen auf und ließ die Luft langsam durch die Lippen entweichen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig... "Wir werden dem natürlich nachgehen", erwiderte er in gereiztem Unterton und ärgerte sich über sich selbst. Warum nahm er alles aus von Hohenfels' Mund immer gleich so persönlich? Es wollte ihm einfach nicht gelingen, sein Unbehagen gegenüber dem Beamten von der höheren Behörde zu unterdrücken.
Bevor ein peinliches Schweigen entstand, erhob sich von Hohenfels von seinem Stuhl. "Tja, dann ist ja erst mal alles geklärt", überging er die angespannte Stimmung in der engen Wachstube und schnappte seinen Mantel. Mit einem lauten "Mahlzeit!" verließ er den Raum.
Grüninger verpasste der Tischplatte einen Hieb mit der flachen Hand. Dann fischte er sein Frühstück aus dem Schubfach und biss missmutig in das vertrocknete Wurstbrot.